Der Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht und um die Schultern. Die langen weichen Strähnen kitzelten sie leicht. Die Wolken zogen langsam am blauen Himmel vorüber. Vögel breiteten ihre Schwingen vor ihnen aus und glitten durch die Luft. Die Sonnenstrahlen brachen sich im Wasser des Flusses und hinterließen ein magisches Funkeln auf den kleinen Wellen. Die langen Grashalme
am Ufer wiegten im Wind, so wie ihr Haar. Das Rauschen des Flusses drang an ihre Ohren, einem beruhigendem Schlaflied gleich. Es war ein wunderschöner Tag.
Sie nahm ihren Rucksack ab und lehnte ihn an das Geländer der Brücke. Darin befand sich ihr Tagebuch, das sorgfältig verschlossen war. Der Schlüssel befand sich in ihrer Hosentasche. Außerdem hatte sie das Foto von ihr und ihrer Schwester eingepackt. Ein schlichter Holzrahmen mit einem Foto, das die beiden Mädchen zu zweit auf einer Schaukel zeigte. Sie lachten und waren fröhlich. Das war ein Tag, an den sie sich gern erinnerte. Sie hatten sich ein Eis gekauft, von dem sie beide schleckten und waren dann zu zweit schaukeln gegangen. Sie hatten alles miteinander geteilt. Bis ihre Schwester vor drei Jahren starb. Sie wurde an einer Ampel von einem Auto angefahren. Es hatte nicht gebremst, obwohl für die Autos rot war. Sie hatte es nichteinmal bis zum Krankenhaus geschafft. Als sie erfuhr, dass ihre Schwester tot war, hatte sie monatelang nicht gesprochen. Es war ein Schock. Ein Teil ihrer Selbst schien zu fehlen, für immer. Eines Tages konnte ihre Mutter es nicht mehr ertragen, sie schlug ihr ins Gesicht, mit der flachen Hand. Einfach so. Es war am Essenstisch gewesen. Mutter hatte nichts gesagt, ihre Augen sprachen für sie. Sie war traurig, verletzt, zerbrochen. An dem Tag hatte das Mädchen wieder zu sprechen begonnen.
Ein ovaler Stein, ähnlich einem Ei, lag auch in der Tasche. Die beiden Mädchen hatten ihn am Fluss gefunden. Sie hatten sich immer vorgestellt, es wäre ein echtes Ei und eines Tages würde etwas daraus schlüpfen, vielleicht ein Drache. Das hätte ihnen gefallen. Ihr eigener Drache. Ihre Schwester hatte dem Stein ein Gesicht gemalt, mit Hörnern und scharfen Zähnen. Das Letzte, das sie eingepackt hatte, war ein blaues Tuch. Das Tuch, das ihre Schwester immer im Haar getragen hatte.
Einen Brief hatte sie nicht eingepackt. Den hatte sie Zuhause auf den Esstisch gelegt. Nun nahm sie das Tuch aus der Tasche und band es sich ins Haar, so wie ihre Schwester es getragen hatte. Dann zog sie ihre Schuhe aus und stellte sie vor die Tasche. Ihre Socken steckte sie in die Schuhe. Den Rest ihrer Kleidung legte sie über den Rucksack. Und dann stieg sie auf das Geländer. Sie hatte lange darüber nachgedacht. Nicht das "Ob", sondern das "Wo". Sie wollte nicht viel Aufhebens darum machen. Also beschloss sie, sich nicht von einem Haus zu stürzen, da ihr zerscholtener Körper nur unnötig Schaulustige anlocken würde. Vor einen Zug wollte sie sich auch nicht schmeißen, da das den Bahnverkehr einige Zeit lang lahm legen würde. Hätte sie sich in ihrem Zimmer erhangen, hätte sie ihrer Mutter den Anblick einer, ins Leere starrenden, Leiche zugemutet. Und sich im Bad die Pulsadern aufzuschneiden, hätte eine widerliche Sauerei gegeben.
Den Fluss würde sie nicht stören. Im Gegenteil, er würde sie als sein Kind empfangen, so wie er sie einst der Welt geschenkt hatte. Als kleines Kind wurde sie am Ufer angespült und zu ihrer Familie gebracht, damit die sie aufzog. Sie war ein Kind der Natur. Und dorthin wollte sie zurückgehen. Mit offenen Armen und einem Lächeln im Gesicht ließ sie sich fallen, fiel dem wogenden Wasser entgegen und würde es an ihre Brust drücken, wenn sie dort war. Sie würde Zuhause sein.
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